`
`
`
`Evelin Kirkilionis
`Ein Baby
`will
`getragen
`sein
`
`Petitioner Ex. 1073 Page 2
`
`
`
`Evelin Kirkilionis
`
`by
`
`sein
`
`Alles über geeignete Tragehilfen
`und die Vorteile des Tragens
`
`Mit einem Vorwort von
`Jirina Prekop
`
`Kösel
`
`Petitioner Ex. 1073 Page 3
`
`
`
`Für alle Kinder und Eltern,
`die bei der Entstehung dieses Buches mitgewirkt haben.
`
`ISBN 3-466-34408-5
`Copyright © 1999 by Kösel-Verlag GmbH & Co., München.
`Printed in Germany. Alle Rechte vorbehalten.
`Druck und Bindung: Ebner Ulm.
`Zeichnungen: Maria Ackmann, Hagen.
`Fotos: © Evelin Kirkilionis, Kandern.
`Umschlag: Elisabeth Petersen, München.
`Umschlagmotiv: © DIDYMOS® Erika Hoffmann GmbH, Ludwigsburg.
`4 5 ¯ 03 02 01 00
`
`Gedruckt auf umweltfreundlich hergestelltem Werkdruckpapier (säurefrei und
`chlorfrei gebleicht)
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`Petitioner Ex. 1073 Page 4
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`
`Inhalt
`
`9
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`13
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`17
`
`17
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`21
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`23
`25
`34
`38
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`43
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`46
`
`50
`
`Vorwort von Jirina Prekop ........................
`
`Ein Baby will getragen sein ......................
`
`Teil l
`Warum ein Baby tragen? .....................
`
`1 D
`
`as Bedürfnis des Babys nach Nähe versus Die Angst
`vor dem verwöhnten Kind ......................
`
`2 Z
`
`um besseren Verständnis: ein wenig (Stammes-)
`Geschichte ......................................
`
`Die Verhaltensdispositionen eines Traglings ...........
`Die besondere Geschichte des menschlichen Säuglings...
`Die kindliche Physiologie und Anatomie ..............
`Vom Nesthocker zum Tragling ......................
`
`3 H
`
`üftdysplasie und Tragen .......................
`
`Das Märchen von den Wirbelsäulenschäden ...........
`Das Tragen - eine kindgerechte und adäquate Prophylaxe
`bei Hüftdysplasie ................................
`
`Petitioner Ex. 1073 Page 5
`
`
`
`53
`
`54
`
`57
`60
`61
`
`4 T
`
`ragen - Im »Rausch« der Sinne ..................
`
`Der Hautkontakt - Nahrung für die Seele .............
`Eine ungewohnte Dimension: die Bewegungswahr-
`nehmung ........................................
`Von der Not zur Tugend - Ferien vom Inkubator .....
`Tragen - Wahrnehmen der Eltern mit fast allen Sinnen.
`
`5D
`
`ie Entwicklung der kindlichen Fähigkeit .........
`
`64
`
`64
`68
`
`72
`
`73
`78
`8O
`
`Das Wechselspiel der Sinne: das Zauberwort
`»In tegra tion « ...................................
`Das Gleichgewicht finden - Körpergefühl und Bewegung
`
`6 D
`
`ie Bedeutung der Eltern-Kind-Bindung ...........
`
`Die Wechselwirkung einer intensiven Beziehung ......
`Nähe und Distanz - Die Selbständigkeitsentwicklung. .
`Erfahrung sammeln außerhalb der eigenen Möglichkeiten
`
`7 B
`
`itte keine Ideologie! ............................
`
`84
`
`Petitioner Ex. 1073 Page 6
`
`
`
`Teil !!
`Tragen, ja - aber wie? ........................ 91
`
`8 T
`
`ragen ist nicht gleich Tragen .................... 91
`
`94
`
`94
`
`96
`100
`
`101
`
`104
`
`105
`108
`111
`112
`118
`129
`137
`
`143
`
`9 T
`
`ragebeutel, Tragesäcke, Känguru-Tragen etc .......
`
`Worauf Eltern beim Kauf von Tragebeuteln oder -säcken
`achten sollten ....................................
`Tragesäcke oder -beutel für den aufrechten Sitz in
`Face-to-face-Orientierung ........................
`Tragehilfen für den seitlichen Sitz ...................
`Nur ganz kurz: Tragegestelle, Rückentragen, Kraxen
`oder Kiepen ......................................
`
`10
`Tragen im Tragetuch ............................
`
`Zunächst ein paar allgemeine Tipps ..................
`Die Qualität von Tragetüchern .....................
`Allgemeingültiges für die verschiedenen Bindetechniken .
`Liegend im Tragetuch getragen - Die Wiege ..........
`Der aufrechte Sitz im Tragetuch vor der Brust ........
`Auf dem Rücken getragen ..........................
`Seitlicher Hüftsitz im Tragetuch ....................
`Überblick über Tragetuchlängen, passend zu den
`Bindevarianten ...................................
`
`Petitioner Ex. 1073 Page 7
`
`
`
`11
`Ein paar Besonderheiten .........................
`
`12
`Was sonst noch das Tragen erleichtert .............
`
`13
`Da wäre noch eine Frage ..........................
`
`144
`
`147
`
`150
`
`Anmerkungen ...................................
`
`161
`
`Petitioner Ex. 1073 Page 8
`
`
`
`Vorwort
`
`Im wahrsten Sinne rechtzeitig erscheint dieses Buch. Nicht
`zuletzt deshalb, weil das Tragen der Kinder als eine uralte
`Art der Kinderbetreuung eine Aufdeckung in unserer techno-
`kratischen Gesellschaft gebrauchen würde. Dafür hat schon
`der Zeitgeist der 68er-Jahre gesorgt. Eine der bahnbrechend-
`sten Hinweise auf die Bedeutung des Tragetuchs gab Jean
`Liedloff in ihrem Buch Auf der Suche nach dem verlorenen
`Glück. In der Gesellschaft, die seelisch immer kränker wurde,
`weil sie anstelle der wahren Geborgenheit ihre Sicherheiten
`in der technischen Versorgung suchte, in Abhängigkeiten
`von perfekten Leistungen, Computer, Fernsehen und Drogen,
`und zugleich in Egoismus und Entfremdung der Menschen
`voneinander geriet, wurde das Bedürfnis nach den Wurzeln
`der Liebe bewusster. Die sanfte Geburt, das Stillen und das
`Tragetuch wurden zu Maximen.
`Doch allmählich schlich sich eine Ernüchterung ein. Wel-
`che Geburt ist schon sanft? So manche Mutterliebe brach
`zusammen, wenn das Kind in der Nacht ununterbrochen
`nach der Brust verlangte. In nicht seltenen Fällen entpuppte
`sich auch aus dem Baby im Tragetuch ein kleiner Tyrann.
`Dies geschah, wenn sich die Mutter restlos dem Kind anpasste
`und es in dem Tempo und die Richtung trug, welche das
`Baby mit seinem Schreien angegeben hat. Schadet es letzten
`Endes dem Kinde nicht? Erleidet es keine Haltungsschäden,
`so wie es etwa die Omas befürchteten? Jedenfalls hatten
`einige Mütter selbst Rückenbeschwerden bekommen. Und
`obwohl der Vater zunächst stolz sein Baby im Känguru-Sack
`
`Petitioner Ex. 1073 Page 9
`
`
`
`trug, ging seine Ehe in die Brüche. So sieht man heutzutage
`wieder häufiger den Kinderwagen auf der Straße. Und allein
`stehende Mütter. Der Wunsch nach Krippen wird wieder
`lauter. Noch nie waren die jungen Mütter so verunsichert
`wie heute.
`Eben gerade zu diesem Zeitpunkt erscheint dieses Buch.
`Ein nochmaliger Hinweis auf die Bedeutung der fortgesetzten
`Bindung, die im Leib der Mutter begann und noch lange
`an ihrem Körper zu pflegen ist. Evelin Kirkilionis stützt
`sich auf die neuesten Ergebnisse der Verhaltensbiologie und
`der Bindungsforschung. Fachlich überzeugend argumentiert
`sie gegen den Verdacht auf Begünstigung von Wirbelsäu-
`lenschäden durch das Tragen und auch für die positive
`Wirkung auf die Entwicklung der kindlichen Hüftgelenke
`- besonders bei der Gefahr einer Hüftdysplasie ein wichtiger
`Punkt.
`Bereits werden die Begriffe der emotionalen Intelligenz
`und der sozialen Kompetenz zu aktuellen Themen. Diese
`wesentlichen Merkmale der Menschlichkeit bilden sich in
`unserer technischen Zivilisation immer mehr zurück. Wo
`aber sonst soll der soziale Lernprozess beginnen, wenn nicht
`im Kontakt des Kleinkindes mit seiner Mutter? In seiner
`Stetigkeit und Ganzheitlichkeit, da mittels aller Sinne wahr-
`nehmbar, ist dieser Kontakt hauptsächlich durch das Trage-
`tuch gewährleistet. Hier wird spontan das Hineinfühlen
`geübt. Hier fühlt sich das Baby verstanden, wenn es von der
`Mutter lautierend, mimisch, streichelnd beantwortet wird.
`Hier lernt es auch die Konfrontation mit den Gefühlen der
`Mutter, wenn es sich gegen sie aufbäumt. Unter dem festen
`Halten bekommt das Kind die Chance, seinen Ärger von
`Antlitz zu Antlitz auszutragen und sich an der erneuerten
`Bindung zu erfreuen.
`
`10
`
`Petitioner Ex. 1073 Page 10
`
`
`
`Heute stehen wir vor einem herausfordernden Wider-
`spruch, denn mehr als je wird die Bedrohung der Mensch-
`lichkeit bewusst, und so wird auch die Sorge um ihre Auf-
`rechterhaltung immer dringender. Diese Aufgabe obliegt vor
`allem den jungen Eltern. Denn ihre Kinder sollen sich als
`Erwachsene von morgen für die Erneuerung der Mensch-
`lichkeit einsetzen. Aber noch nie waren junge Eltern so
`zutiefst verunsichert wie heute.
`In der festen Hoffnung, dass es uns doch gelingt, diese
`Krise in eine Chance umzuwandeln, begrüße ich herzlich
`dieses Buch als einen der zuverlässigen Wegweiser zum
`Guten.
`
`Jirina Prekop
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`Petitioner Ex. 1073 Page 11
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`Petitioner Ex. 1073 Page 12
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`Petitioner Ex. 1073 Page 12
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`
`
`Ein Baby
`will getragen sein
`
`Mit dem Baby, eingepackt in ein Tragetuch oder fast ganz
`verborgen in einem Tragesack, zusammen über Stock und
`Stein einen ungebremsten Spaziergang genießen - schwung-
`voll die Bustreppe hinunter, kein um Hilfe bittender Blick
`zu den Mitfahrern ist nötig - locker durch das Menschenge-
`wühl am Samstagmittag, ohne die Marktbummler mit dem
`Buggy anzufahren und vorwurfsvollen Blicken ausweichen
`zu müssen - die Suche nach den Aufzügen in Kaufhäusern
`überflüssig - Treppen vor der Stadtverwaltung, kein Prob-
`lem.
`Das Baby eng am Körper gebunden, das erinnert manche
`Mutter ein wenig an die Nähe während der Schwanger-
`schaftszeit, man spürt seine Bewegungen, seine Wärme - ein
`rundum wohliges Gefühl. Ja, wenn da nicht diese Bemerkung
`des Arztes gewesen wäre, der von Atembeschwerden ge-
`sprochen hatte, und die Krankengymnastin, die Wirbelsäu-
`lenschäden andeutete. Die Hebamme betonte aber auf der
`anderen Seite ebenso, wie wichtig die Körpernähe für einen
`Säugling ist, und schwärmte nahezu von dieser Bindetechnik,
`bei der sich das Baby aufrecht sitzend eng an den Körper
`der Mutter schmiegt. Aber diese Wirbelsäulenschäden ...
`Vielleicht doch vorläufig besser diese Wiege-Bindetechnik -
`wie geht die eigentlich richtig? Sieht ja ein bisschen kompli-
`ziert aus. Da gibt es doch Tragesäcke, die sollen einfacher
`zu handhaben sein, aber welcher ist der beste? Und ab wann
`kann man denn sein Baby nun auf welche Weise tragen?
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`13
`
`Petitioner Ex. 1073 Page 13
`
`
`
`Was ist dran an den Vorbehalten gegen das Tragen? Sind
`diese Schwärmereien von Nähe und Geborgenheit nicht ein
`bisschen übertrieben und vielleicht eine Art Ideologie?
`Schließlich sind unsere Kinder bisher auch ohne diese Tra-
`gehilfen groß geworden und ganz ordentlich geraten - oder!?
`Auf der anderen Seite ist es schon praktisch und ein schönes
`Gefühl, sein Kleines so nahe zu haben. Man merkt jede
`Regung, und das Baby fühlt sich ja auch so wohl, kein
`Muckser, sobald es die Treppe hinunter an die frische Luft
`geht, höchstens dieses genüssliche Grunzen, das wie »Na
`endlich!« klingt, kurz bevor es friedlich einschlummert.
`Widerstreitende Gefühle und Kommentare, Fragen über
`Fragen - Wie? - Ab wann? - Warum eigentlich? - begleiten
`das Thema »Tragen eines Babys«, seit diese Methode Einzug
`in die »moderne Kinderbetreuung« gehalten hat. Ist das
`Tragen von Säuglingen eine Modeerscheinung, auf die man
`besser verzichten sollte? Oder sind das nur Unkenrufe, die
`so manche neue Idee begleiten, bis sie sich schließlich doch
`durchsetzt? Zunächst, neu ist das Ganze nicht, es handelt
`sich vielmehr um die Wiederentdeckung einer uralten Me-
`thode - jedenfalls in unserem Kulturkreis. Sie ist bei uns,
`wie gesagt, nach wie vor nicht unumstritten, auch wenn
`Untersuchungen der letzten Jahre immer mehr positive Kom-
`ponenten des Getragenwerdens von Kindern aufzeigten.
`Ärzte, Krankengymnasten, Hebammen raten Eltern zum Teil
`noch immer vom Tragen ihrer Babys im ersten Lebenshalb-
`jahr ab, weil sie Schädigungen der kindlichen Wirbelsäule
`vermuten. Und Mütter, die ihre Kleinen in Tragetüchern
`mitnehmen, werden auf der Straße von fremden Leuten
`vehement angegriffen, weil das der Gesundheit ihres Kindes
`schade, und werden dadurch völlig verunsichert. Hier hilft
`nur fundiertes Hintergrundwissen!
`
`14
`
`Petitioner Ex. 1073 Page 14
`
`
`
`So wird sich dieses Buch nicht damit zufrieden geben,
`ratgeberartig praktische Tipps zum Tragen zu geben, und
`sich nicht nur mit den verallgemeinernden Vorwürfen und
`Ideologisierungen in Bezug auf das Tragen auseinander set-
`zen. Es werden auch die grundlegenden kindlichen Bedürf-
`nisse und die Eltern-Kind-Bindung zur Sprache kommen,
`die nicht unabhängig von den Fähigkeiten der beiden Betei-
`ligten, sich aufeinander einzustellen, betrachtet werden kön-
`nen.
`Die Wissenschaft entdeckte in den letzten Jahrzehnten eine
`Vielzahl von unvermuteten Fähigkeiten des Säuglings. Durch
`ausgeklügelte Untersuchungsmethoden konnten immer neue
`faszinierende Sinnesleistungen der Babys - teils bereits in der
`ersten Lebenswoche - aufgezeigt werden, die ihm den Kon-
`takt zu seiner Umwelt eröffnen und die Interaktion mit seinen
`Betreuungspersonen erlauben. Der »kompetente Säugling«
`wurde sozusagen entdeckt. Doch so komplex diese Fähigkei-
`ten auch sein mögen, ein Baby wird von Situationen überfor-
`dert, die seinem Entwicklungsstand nicht angepasst sind.
`Hier sind die Eltern gefragt. Sie sind es, die den Rahmen
`vorgeben, in dem das Kind seine Fähigkeiten zur Geltung
`bringen und entfalten kann. Sie befriedigen seine Bedürfnisse
`und helfen, seine innere Sicherheit aufzubauen, die grundle-
`gend für den weiteren Verlauf seiner Entwicklung ist.
`Auf Unterstützung und Fürsorge sind Kinder über Jahre
`hinweg angewiesen, und Eltern sind sich ihrer Verantwor-
`tung wohl bewusst. Ihr Bemühen, möglichst günstige Bedin-
`gungen für die kindliche Entwicklung zu schaffen, findet in
`der großen Zahl verkaufter Erziehungsratgeber ihren Aus-
`druck.
`Auch dieses Buch soll dazu beitragen, den Rahmen für
`die kindliche Entwicklung geeigneter zu gestalten. Hierzu
`
`15
`
`Petitioner Ex. 1073 Page 15
`
`
`
`werden die Erkenntnisse verschiedenster Wissenschaftsdis-
`ziplinen - neben meiner »Hausdisziplin«, der Verhaltensbio-
`logie, auch die Evolutionsbiologie, die Entwicklungspsycho-
`logie, Neurophysiologie und Medizin - bemüht. Das Thema
`Tragen soll möglichst umfassend beleuchtet werden. Man-
`ches wird ausführlicher behandelt, manches kann nur kurz
`erwähnt werden - und es dient dann vielleicht als Anregung
`zur weiteren Auseinandersetzung mit diesem Thema.
`
`Petitioner Ex. 1073 Page 16
`
`
`
`Teil l
`
`Warum
`ein Baby tragen?
`
`1D
`
`as Bedürfnis des Babys
`nach Nähe versus Die Angst
`vor dem verwöhnten Kind
`
`»Ich weiß nicht, warum, aber seit einiger Zeit schläft er
`einfach nicht mehr richtig ein. Dabei haben wir nun endlich
`ein richtiges Bettchen für Nikolas und ein eigenes ruhiges
`Zimmer.« In den Worten der Eltern klingen Überraschung,
`Enttäuschung und Unverständnis mit, denn die frühere
`Wohnsituation erlaubte kein eigenes Kinderzimmer. Zum
`Mittagsschlaf wurde die Tragetasche auf die Eckbank neben
`dem Küchentisch platziert, und da war es trotz größter Mühe
`oft nicht gerade leise. Dennoch, der Kleine schlief meist sofort
`ein. Und heute gibt es Schwierigkeiten, wenn er in seinem
`
`17
`
`Petitioner Ex. 1073 Page 17
`
`
`
`nun endlich ruhigen Kinderzimmer einschlummern soll. Für
`einen Erwachsenen ist ein ruhiger, separater Raum sicherlich
`die richtige Umgebung, doch ein Säugling hat andere Be-
`dürfnisse. Ruhe ist für ihn keineswegs Voraussetzung, um
`einschlafen zu können. Denken Sie an das Baby, das auf
`Vaters Schoß friedlich ein Nickerchen macht, während sich
`die gesamte Familie am Küchentisch recht lautstark mitei-
`nander unterhält. Dieses Bild spricht genauso für sich wie
`die Szene, bei der das Kind im Tragetuch an die Mutter
`gekuschelt ruhig schläft, während die Geschwister mit ge-
`samter Freundesschar um beide herumtoben. Nicht unbe-
`dingt Ruhe, sondern die Wahrnehmung der ihm Geborgen-
`heit vermittelnden Menschen ist für ein Baby wichtig, und
`das gilt nicht nur, um friedlich einschlafen zu können.
`»Du kannst ja nicht einmal eine Minute aus dem Raum
`gehen, ohne dass sie anfängt, unruhig zu werden oder zu
`weinen. Anouk ist ganz schön verwöhnt.« Die Vorstellung
`von egoistischen Babys, denen man möglichst bald beibrin-
`gen sollte, dass man sich »nicht auf der Nase herumtanzen«
`lässt, beeinflusst nach wie vor so manche Erziehungsmaß-
`nahmen. Doch zunächst einmal existieren für einen Säugling
`Gegenstände und natürlich auch Personen nur dann, wenn
`sie für ihn wahrnehmbar sind. Erst mit etwa neun Monaten
`sind für ein Kind Dinge weiter existent, auch wenn sie nicht
`zu sehen, zu hören oder zu greifen sind. Über Ansätze dieser
`so genannten Objektpermanenz verfügen Babys etwa ab dem
`fünften Lebensmonat, jedoch erst vier Monate später suchen
`sie aktiv nach einem aus dem Blickfeld verschwundenen
`Gegenstand.1 Somit kann sich ein Säugling in den ersten
`Lebensmonaten auch nicht die Weiterexistenz seiner Eltern
`und folglich ihrer Fürsorge vorstellen, sobald sie aus seinem
`Gesichtsfeld verschwunden sind.
`
`18
`
`Petitioner Ex. 1073 Page 18
`
`
`
`Gerade die Nähe seiner Betreuungspersonen vermittelt
`einem Baby Geborgenheit, Sicherheit, Ruhe - und das bleibt
`über das Säuglingsalter hinaus bestehen. Der Kontakt zu
`vertrauten Menschen ist für ein Kind auch über die nächsten
`Jahre hinweg Voraussetzung, um ausgeglichen seine Umge-
`bung erkunden zu können. Natürlich erweitert sich mit der
`Zeit der Verhaltensspielraum eines Kindes. Die Eltern im
`Nebenraum zu wissen, sie zu hören, nur hin und wieder zu
`ihnen laufen und kurz Nähe »tanken« zu können genügt
`irgendwann. In verunsichernden Situationen ist aber dann
`doch wieder direkter Körperkontakt erforderlich. Doch zu-
`rück zum Babyalter.
`Körperkontakt, aber auch Bewegtwerden, beides oft mit-
`einander verbunden, sind intensive Sinneswahrnehmungen,
`die einem Säugling die Gegenwart seiner Eltern signalisieren,
`ihm zeigen, dass er nicht allein und verlassen ist. Gerade in
`der Einschlafsituation ist das Bedürfnis nach Geborgenheit
`besonders ausgeprägt. Und die Mütter, die mir, ihr Baby eng
`umgebunden, auf der Treppe begegnen, oder jene, die im
`»Marschschritt« ihre Kreise um Wohnzimmertisch und Sessel
`drehen, haben ihre spezielle Methode gefunden, ihren Kin-
`dern intensive Anwesenheitssignale zu vermitteln.
`Das starke Bedürfnis eines Babys nach beständiger Nähe
`zu einer seiner Betreuungspersonen und die beruhigende
`Wirkung von Bewegung und Körperkontakt lässt sich aus
`unserer Stammesgeschichte erklären. Es gibt einige Verhal-
`tensbesonderheiten und anatomische Eigenschaften, die un-
`ter dem Blickwinkel der menschlichen Evolution auf Anpas-
`sungen an das Getragenwerden hinweisen. Stammesge-
`schichte kann also sehr aktuell sein, und daher hierzu nun
`etwas mehr.
`
`19
`
`Petitioner Ex. 1073 Page 19
`
`
`
`¯ Der Wunsch nach beständiger Nähe und Körperkontakt ist ein Grund-
`bedürfnis im Säuglingsalter.
`Erst mit etwa neun Monaten sind für einen Säugling Gegenstände und
`natürlich auch Personen weiterhin exlstent, wenn sie nicht zu sehen,
`zu hören oder zu greifen sind (erste Ansätze dieser so genannten
`Objektpermanenz sind frühestens im fünften Lebensmonat erkenn-
`bar). Erst dann ist die Voraussetzung geschaffen, dass ein Kind das
`Weiterbestehen der elterlichen Fürsorge auch bei deren Abwesenheit
`begreifen kann.
`
`Petitioner Ex. 1073 Page 20
`
`
`
`2Z
`
`um besseren Verständnis:
`ein wenig (Stammes-)
`Geschichte
`
`Die Lebensweise unserer ersten zu den Menschen zählenden
`Ahnen war von permanenter Mobilität geprägt. Auch die
`stammesgeschichtlich später auftretenden Menschen zogen
`als Iäger und Sammler auf der Suche nach Nahrung umher,
`ähnlich wie es bei einzelnen traditionalen Kulturen selbst
`heute noch der Fall ist. Sie können uns als Vorstellungshilfe
`für die Lebensweise unserer prähistorischen Vorfahren die-
`nen und somit auch als Vorstellungshilfe, an welche Bedin-
`gungen wir biologisch angepasst sind.
`Die Hauptnahrung war pflanzlicher Natur, ergänzt durch
`gelegentlich gefundene Kleinlebewesen. Jagd stand keines-
`wegs ständig auf der Tagesordnung. An der Nahrungssuche
`nahmen alle Gruppenmitglieder teil. Aus der nomadischen
`Lebensweise ergab sich das Mitnehmen der Kinder zwangs-
`läufig, ein Säugling konnte nicht irgendwo abgelegt und
`zurückgelassen werden. Rastete man, war er fast ständig im
`Körperkontakt mit seiner Mutter bzw. mit einer anderen
`vertrauten Person, wanderte man weiter, wurde er aufge-
`nommen und getragen, sobald sich der Hunger meldete,
`wurde er gestillt. In stammesgeschichtlicher Zeit war für
`einen Säugling »alleine bleiben« gleichbedeutend mit: von
`seiner Mutter zurückgelassen, folglich verlassen sein - einer
`lebensbedrohlichen und damit beängstigenden Situation also,
`
`21
`
`Petitioner Ex. 1073 Page 21
`
`
`
`die ein Kind mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln
`beenden wollte und musste.
`Die Bedürfnisse eines Neugeborenen - einschließlich des
`Bedürfnisses nach Nähe zu seinen Betreuungspersonen -
`sind als wichtige Anpassungsleistungen zu verstehen, die
`das Überleben der Gattung Mensch garantierten. Sie ent-
`standen im Verlaufe der Jahrmillionen dauernden Mensch-
`heitsentwicklung, die ihrerseits auf den Anpassungen unse-
`rer affenähnlichen Vorfahren aufbaute. Erst bedeutend später
`erlaubte die kulturelle Entwicklung - Voraussetzung war
`das Sesshaftwerden des Menschen -, ein Kind ohne Gefahr
`an einem sicheren Ort zurückzulassen. Die Verhaltensdispo-
`sitionen des Säuglings konnten sich hieran in dieser ver-
`gleichsweise sehr kurzen Zeitspanne jedoch nicht anpassen.
`Nach wie vor empfindet er es als beängstigend, wenn kei-
`nerlei Anwesenheitssignale seiner Eltern wahrnehmbar sind.
`Verlassenheitsweinen nennt man auch das Aufweinen, bleibt
`ein Baby in einem Raum allein zurück. Das Weinen soll einen
`vertrauten Menschen heranrufen, auch wenn dies für das
`tatsächliche Beschütztsein nicht vonnöten wäre.1
`Ein Kind ist an das Mitgenommenwerden angepasst.
`Körperkontakt, insbesondere in Verbindung mit Bewegung,
`ist ein intensives Signal der Anwesenheit betreuender Eltern,
`womit sich seine beruhigende Wirkung erklärt. Das mag
`selbstverständlich klingen und kaum erwähnenswert erschei-
`nen, schließlich sucht in der Natur jedes Neugeborene Si-
`cherheit in der Nähe der Elterntiere. Allerdings führt die
`Abwesenheit der Eltern oder der Mutter allein nicht bei allen
`Jungtieren zu Angstreaktionen, wie später gezeigt wird.
`
`22
`
`Petitioner Ex. 1073 Page 22
`
`
`
`Die Verhaltensdispositionen eines
`Traglings
`
`In der Verhaltensbiologie unterscheidet man drei Jungenty-
`pen, die jeweils mit ganz charakteristischen Eigenschaften
`und Bedürfnissen der Neugeborenen verbunden sind. Es
`handelt sich dabei um Anpassung an die Lebens- und Be-
`treuungssituation der verschiedenen Tierarten, einschließlich
`natürlich des Menschen. Die drei Jungentypen »Traglinge«,
`»Nesthocker« und »Nestflüchter« sind sozusagen Kurzfor-
`meln für die jeweiligen Bedürfnisse und Anpassungen des
`Nachwuchses an ihre unterschiedlichen Lebensbedingungen.
`Die Verhaltensdispositionen, unsere Stammesgeschichte
`und Vergleiche mit unseren nächsten Verwandten, den Men-
`schenaffen, sprechen dafür, dass das menschliche Neugebo-
`rene zum biologischen Jungentypus des Traglings zu zählen
`ist. Alle Traglinge Sind an das ständige Mitgenommenwerden
`angepasst. Beteiligen sich die Jungen nicht am Tragen, spricht
`man von passiven Traglingen wie beispielsweise bei Kängu-
`rujungen, die ihre erste Lebenszeit geschützt im Beutel der
`Mutter verbringen. Halten sie sich dagegen selbst an der
`Mutter fest, spricht man von aktiven Traglingen. Hierzu
`zählen die Jungen der verschiedenen Affenarten und natür-
`lich die der Menschenaffen, die sich in der ersten Zeit zu-
`nächst mit Händen und Füßen ans Bauchfell anklammern,
`während sie später oft den Reitsitz vorziehen.
`Aktiv mit Händen und Füßen am Körper anklammern
`kann sich der menschliche Säugling jedoch nicht. Gut, wir
`haben kein Fell mehr, Klein-Anouk oder Nikolas hätten
`deswegen sowieso keine Chance, sich an Mama festzuhalten.
`Außerdem haben wir zusätzlich auch noch »Lauffüße«, deren
`
`23
`
`Petitioner Ex. 1073 Page 23
`
`
`
`Greiffähigkeit kein sicheres Anklammern mehr erlaubt. Auch
`die Kraft der Hände würde nicht ausreichen, obwohl der in
`den ersten Lebenswochen noch vorhandene Greifreflex an
`diese Fähigkeit aus stammesgeschichtlicher Frühzeit erinnert.
`Vielleicht kennen Sie die Bilder der an einer Wäscheleine
`hängenden Babys. Aber dies sind Momentaufnahmen, die
`bald nach der Geburt erstellt wurden. Es handelt sich um
`sehr leichte Kinder, zumeist sind es sogar zu früh geborene.
`Kurze Zeit später genügt die Kraft der Neugeborenen jedoch
`nicht mehr für diese Akrobatik. Obwohl sich also ein mensch-
`liches Baby weder mit Fügen noch mit Händen festhalten
`kann, soll es ein Tragling sein und dann auch noch - wie
`ich hier vorgreifend behaupten will - ein aktiver Tragling?
`Ihre Bedenken sind durchaus berechtigt. Schließlich war
`bereits bei den ersten zum Menschen zählenden Vorfahren
`- der Name Australopithecus ist Ihnen vielleicht bekannt -
`die Umbildung der hinteren Extremitäten zu einem Lauffuß
`mit stark eingeschränkter Greiffähigkeit vollzogen: Sie gingen
`aufrecht auf zwei Beinen.2 Das Neugeborene konnte sich
`aufgrund der Besonderheiten der menschlichen Fortbewe-
`gung folglich bereits in dieser stammesgeschichtlichen Früh-
`zeit nicht oder nur sehr begrenzt mit den Füßen im noch
`immer vorhandenen Haar der Mutter festhalten. Denkbar
`ist, dass die Mutter die Tragearbeit verstärkt übernahm,
`zunächst noch unterstützt durch die Fähigkeit des Säuglings,
`sich mit den Händen anklammern zu können. Mit der Rück-
`bildung des Haarkleides aber hätte die Mutter die ganze
`Tragearbeit übernehmen müssen, der Säugling wäre damit
`zum passiven Tragling geworden.
`Tatsächlich galt der menschliche Säugling in der Verhal-
`tensbiologie lange Jahre als passiver Tragling.3 Doch es gibt
`Verhaltensweisen und anatomische Besonderheiten, die die
`
`24
`
`Petitioner Ex. 1073 Page 24
`
`
`
`aktive Beteiligung des Säuglings am Tragen belegen. Salopp
`formuliert: Er »erfand« eine eigene Strategie. So wie sich uns
`der menschliche Säugling heute präsentiert, konnte er mit
`den allmählichen Veränderungen während der Menschheits-
`evolution - dem aufrechten Gang und der Umformung des
`Greif-Lauffußes zu einem reinen Lauffuß - Schritt halten,
`ohne seinen aktiven Traglingsstatus aufgeben zu müssen. Er
`fand einen anderen Platz am Körper der Mutter, und zwar
`auf der Hüfte.
`Diese besondere Entwicklung ist es wert, etwas näher in
`Augenschein genommen zu werden. Zum besseren Verständ-
`nis möchte ich ein paar vergleichende Beobachtungen einfü-
`gen, aber um Missverständnissen vorzubeugen gleich beto-
`nen, dass es sich bei dieser vergleichenden Betrachtungsweise
`nur um Vorstellungshilfen handelt. Niemals dürfen Beobach-
`tungen, die an Tieren gemacht wurden, auf den Menschen
`übertragen werden- und umgekehrt natürlich auch nicht.
`Stets sind eigene Untersuchungen erforderlich.
`
`¯ Der menschliche Säugling ist, wie die verwandtschaftlich nahe ste-
`henden Menschenaffen, ein Tragling, der in seiner Verhaltensdisposi-
`tion an die beständige Nähe seiner Betreuungspersonen angepasst ist.
`
`Die besondere Geschichte des mensch-
`lichen Säuglings
`
`Verschiedenste Komponenten kamen diesem »evolutiven
`Rutsch« zur Seite hin auf die Hüfte der Mutter beim Getra-
`genwerden entgegen. Da sind die anatomischen Gegeben-
`heiten des Säuglings selbst, aber auch die der tragenden
`Mutter sind erwähnenswert.
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`Die Umgestaltungen, die der aufrechte Gang mit sich
`brachte, betrafen z.B. den gesamten Beckengürtel. Selbst in
`der recht großzügigen Zeichnung (Abb. 1) sind die damit
`verbundenen grundlegenden Veränderungen gut zu erken-
`nen. Es bildete sich u.a. ein ausgeprägter Hüft-Taillen-Bereich
`heraus, der dem Sitz des Kindes auf der Hüfte -
`besser ausgedrückt: in der Taille - entgegenkam. ~
`Ein breites Becken im Vergleich zur schmalen
`Taille bedeutete einen besseren Halt am Körper
`der Mutter als im Falle unserer nächsten Ver-
`wandten; allein die Körpersilhouetten verdeut-
`lichen das bereits.
`
`Abb. 1 Aufgerichtete Körperhaltung eines Menschen und eines Schim-
`pansen. Die Form des Beckens und der Wirbelsäule sind charakteristisch
`für die jeweilige Art der Fortbewegung: aufgerichtet auf zwei Beinen
`beim Menschen, auf Händen und Füt~en beim Schimpansen.4
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`Auch beim Kind gab es Vorbedingungen, die der neuen
`Position am Körper der Mutter entgegenkamen. Hierzu nach-
`stehend ein Bild eines Gorillababys, das als Vorstellungshilfe
`dienen soll (Abb. 2), wie die Situation unserer affenähnlichen
`Vorfahren ausgesehen haben mag. Die gespreizte, angehockte
`Beinhaltung und die angewinkelte Armstellung ist eine güns-
`tige Ausgangsstellung, um sich im Bauchhaar der Mutter
`sofort anklammern zu können, sobald sich die Gelegenheit
`dazu ergibt. Diese Haltung ist bei allen höheren Primaten
`zu beobachten, sobald das Junge abgelegt wird, und wahr-
`scheinlich entspricht dies auch dem Verhalten unserer affen-
`ähnlichen Vorfahren.
`
`Abb. 2 Das berühmt gewordene Basler Gorillababy Goma in der typi-
`schen Körperhaltung eines Affenjungen, wenn es abgelegt wird.5
`Abb. 3 Dieses drei Monate alte Mädchen hielt ihre Beinchen fast eine
`Viertelstunde in dieser charakteristischen Spreiz-Anhock-Haltung.
`
`Vor allem auf die Stellung der hinteren Extremitäten möchte
`ich Sie aufmerksam machen. Diese gespreizte und angehockte
`Beinhaltung ist nämlich auch eine geeignete Stellung, um
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`
`sich am Körper der Mutter im seitlichen Hüftsitz festzuhalten,
`und zwar mit den gesamten Beinchen. Nur als einen ersten
`Hinweis darauf das Foto eines drei Monate alten Babys (Abb.
`3, s.S. 27).
`Kurz zurück zu stammesgeschichtlichen Aspekten: Es
`waren also kaum Veränderungen bzw. Anpassungen seitens
`des Säuglings erforderlich, als die Trageposition am Körper
`der Mutter zur Seite hin verlagert wurde. In der Biologie
`bezeichnet man dies als präadaptiert, also vorangepasst sein.
`Das ist ein fast magisches Wort in der Evolutionsbiologie,
`denn Präadaptationen gelten als Voraussetzung für Verän-
`derungen im Laufe der Evolution.
`Nach diesem Schnelldurchgang durch die menschliche
`Stammesgeschichte nun wieder zu Ihrem Baby mit seinen
`vielen kleinen Besonderheiten. - Mir ist die Unvollständigkeit
`und gezielte Auswahl der erwähnten Punkte wie auch die
`nur sehr oberflächlich angeführten Gesetzmäßigkeiten der
`Evolution sehr wohl bewusst. Vergleichende Beobachtungen,
`der Blick auf unsere Stammesgeschichte und die daraus
`gezogenen Schlüsse erklären jedoch die gegenwärtigen Ver-
`haltensweisen und anatomischen Anpassungen von Neuge-
`borenen.
`Das Bedürfnis nach ständiger Nähe ist nur ein Aspekt,
`der für die auch heute noch aktuelle Traglingsnatur des
`menschlichen Säuglings spricht. Da ist z.B. die Körperhaltung
`Ihres Babys, das, sobald es intensiv einen Gegenstand be-
`trachtet oder ihn mit den Händen oder dem Mund erkundet,
`häufig eine Körperhaltung einnimmt, die für einen Erwach-
`senen äußerst unbequem und anstrengend wäre und Wil-
`lenskraft erforderte: Die Beinchen werden angezogen und
`leicht gespreizt (Abb. 4), ohne dass sie in die momentanen
`Aktivitäten einbezogen sind.
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`Ich nehme an,
`auch Sie erinnert
`diese Haltung et-
`was an das Bild
`des Gorillababys.
`Setzte diese Kör-
`perhaltung einen
`bewussten Kraft-
`aufwand voraus,
`würde ein kleines
`Kind während ei-
`nes derartigen Er-
`kundungsspiels
`wohl kaum so et-
`was Anstrengen-
`des längerfristig
`beibehalten. Vor
`allem nicht 20 bis
`30 Minuten lang,
`wie es bei älteren
`Babys zum Teil
`zu beobachten
`ist.6 Diese Halttmg
`muss also den ana-
`tomischen und physiologischen Gegebenheiten eines Säug-
`lings entgegenkommen. Dies legte bereits der Vergleich mit
`unseren nächsten Verwandten nahe, eine ähnliche Körper-
`haltung stellt ja eine Vorbereitungshaltung für das Anklam-
`mern im Bauchhaar der Mutter dar. Der Bewegungsablauf
`des sechs Monate alten Kindes in der Bilderserie, das vom
`Boden hochgenommen wird, unterstreicht zusätzlich den
`Zusammenhang dieser Körperhaltung mit dem Getragen-
`
`Abb. 4 Mit allen Sinnen die Fotoapparathülle
`erkunden, die Händchen signalisieren Aufmerk-
`samkeit - die Beinhaltung: »Nebensache«.
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`Abb. 5 In der Erwartung getragen zu werden, werden die Beinchen
`angehockt.
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`werden. Sobald das Baby den Bodenkontakt verliert, zieht
`es die Beine in typischer Weise an. Diese stark angehockte
`und leicht gespreizte Beinstellung wird Spreiz-Anhock-Hal-
`tung genannt (Abb. 5). In dieser Haltung kann der Säugling
`auf die Hüfte gesetzt werden (Abb. 6, s.S. 32). Versucht
`beispielsweise der Vater jedoch - wie im letzten Bild der
`Serie -, sein Kind frontal zu sich orientiert zu umarmen,
`stören die angezogenen Beinchen, da die Spreizstellung nicht
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`
`ausreichend ist. Das Kind kann sich erst richtig an den Vater
`schmiegen, sobald es die Beine absenkt.
`Diese vom Säugling spontan beim Hochheben eingenom-
`mene Beinhaltung hat die Hüfte als Ziel, die eine geringere
`Spreizstellung erfordert als die Face-to-face-Orientierung von
`Erwachsenem und Kind.7 (Falls Ihnen der Ausdruck face-
`to-face nicht geläufig ist: Das ist der Standardbegriff bei zwei
`einander zugewandten Interaktionspartnern.) Beim seitlichen
`Hüftsitz ist ein Säugling aber auch in der Lage, sich aktiv
`an der Stabilisierung des Sitzes zu beteiligen. Denn er kann
`mit seinen Oberschenkeln den Körper der Mutter umfassen
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`
`und sich anklam-
`mern, was bei uner-
`warteten oder hefti-
`gen Bewegungen
`der Mutter gut zu
`beobachten ist.
`Ist Ihr Kind ge-
`wohnt, seitlich auf
`Ihrer Hüfte getra-
`gen zu werden,
`p